Zu Zeiten des T-Mobile Radteams war Christian Frommert Sprecher des Konzerns und daher häufig im Rampenlicht. Nach dem Doping-Skandal  um Jan Ullrich und andere T-Mobile Fahrer wendete sich das Blatt und der ehemalige Sportmanager wurde immer weniger gesehen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Er erkrankte an Magersucht. Am Tiefpunkt seiner Beziehung mit „Anna“, wie Frommert seine Krankheit gerne umschreibt, wog der heute 46-Jährige bei einer Größe von 1,84 m nur noch 39 Kilogramm. Seine Erfahrungen hat er in seinem Buch „Dann iss halt was!“ festgehalten.

Ihr jüngst erschienenes Buch „Dann iss halt was!“ ist die ganz persönliche Biographie eines Mannes, der an Magersucht erkrankt ist. Sie waren als Jugendlicher stark übergewichtig und als Ihre damalige Freundin für ein Jahr nach Australien ging, haben Sie sich geschworen, dünn zu sein, wenn sie zurückkommt. Von Anfang an war Ihnen  unbegreiflich, warum die Frau mit Ihnen, dem „Dicken“ zusammen sein wollte. Auch wenn die eigentliche Sucht erst Jahre später ausgebrochen ist, würden Sie diesen Moment als den Anfang Ihrer Beziehung mit „Anna“ – wie sie die Magersucht (Anorexie) auch gerne umschrieben haben – sehen? Oder kam Anna erst viel später in Ihr Leben? Können Sie heute noch einen ungefähren Zeitpunkt benennen und die genauen Auslöser dafür ausmachen?

C.F.: Es ist ein schleichender Prozess. Es ist ein Gemisch aus verschiedenen Einflüssen, aus unerfüllten Erwartungen, vermeintliche Enttäuschungen, subjektiven Wahrnehmungen, erlittenen Verletzungen. Einem Streben nach Perfektion und schließlich ein Isolieren, eine Flucht in die eigene, in seine Welt. Es baut sich aus all diesen Vorstellungen, Ansprüchen, Realitäten, Wahrheiten und Pseudowahrheiten, Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen ein Druck auf, dem man irgendwann mal – bewusst oder unbewusst – ein Ventil öffnet. Und dann bekommt man diese verdammte Kappe nicht mehr auf dieses Ding. Es ist also die Summe aus vielen Dingen. Irgendwas und irgendjemanden in erster Linie verantwortlich machen zu wollen, wäre grundfalsch und würde der Krankheit nicht gerecht.

Christian-Frommert

Grundsätzlich ist es ja erst einmal nichts Schlechtes, auf sein Gewicht zu achten und gegebenenfalls aus gesundheitlichen und ästhetischen Gründen abzunehmen. Und nicht jeder, der abnimmt, läuft Gefahr, magersüchtig zu werden. Wer ist denn nun eigentlich  besonders gefährdet?

C.F.: Potenziell jeder. Es geht nicht nur um Magersucht. Es geht ja um Essstörung allgemein. Und da sehe ich in unserer Gesellschaft schon eine groteske Entwicklung: Nie wurde hierzulande so öffentlichkeitswirksam gekocht, noch nie wurden so viele Kochbücher verlegt, fast täglich ist es Pflichtprogramm für nahezu jedes Medium, Diäten anzupreisen, Ernährungstipps zu geben oder Essirrtümer zu geißeln. Daneben sagen uns Hochglanzzeitschriften wie Mann und Frau auszusehen haben. Wie soll man da, gerade als Jugendlicher, seinen Weg und eine Art Selbstverständnis finden? Es wird verglichen, gewogen und meist für zu schwer befunden. Magermodels gelten als Vorbilder, Sportasketen als eine Art Helden.

 

Sie beschreiben in Ihrem Buch ausführlich den Aufenthalt in der Schön Klinik Roseneck in Prien, wo sie zusammen mit vielen jungen Mädchen das Essen wieder erlernen sollten. Was hatten Sie mit den jungen Mädchen gemeinsam und was eben nicht? Glauben Sie, dass die eher auf Mädchen/junge Frauen spezialisierte Klinik den jungen Patientinnen mehr gebracht hat als Ihnen?

C.F.: Das vermag ich nicht zu beurteilen. Für mich war dieser gruppenorientierte Ansatz nicht der richtige. Ich denke ein Mann mittleren Alters braucht eine andere Ansprache. Gemein sind die Verhaltensweisen. Das ist wirklich verblüffend. Mann und Frau, Mädchen und Buben, die einander nie gesehen haben, funktionieren in der Krankheit gleich. Sie leben dieselben Rituale, haben die gleichen Ängste, und tischen sich und anderen dieselben Lügen auf. Stationäre Aufenthalte haben ihren Sinn, natürlich, aber entscheidend ist, was man daraus macht, wenn man die Klinik verlässt. Denn dort ist man in (s)einer eigenen Welt mit schützenden Mauern und festen Abläufen. Das Problem ist doch, was ist danach? Plötzlich steht man völlig alleine da. Hilflos, haltlos, fassungslos. Und dann beginnt alles wieder von vorne. Es ist keine Seltenheit, dass die PatientInnen schon zum dritten oder vierten Mal in Klinik XY sind. Da hinterfrage ich schon den therapeutischen Ansatz. Leben findet im Leben statt, deshalb muss es dafür neue Angebote geben oder eben bestehende stärker unterstützt werden.

 

Was sind rückblickend die Momente, von denen Sie sagen, hier habe ich „Anna“ besonders geliebt und gebraucht und wann haben Sie sich wirklich gehasst? Und wann ist Ihnen klar geworden, dass sie Ihnen schadet?

C.F.: Es wird gerne der Fehler gemacht, nach dem Momentum zu fahnden. Es sind Prozesse, Entwicklungen. Es ist ein langer Weg mit Fortschritten, Rückschlägen, aus Stehenbleiben, Verharren, Durchatmen, Fluchten, Abzweigungen, Abkürzungen. Wenn Druck aufgebaut wird von außen, wenn Ängste einen packen, dann flieht man immer wieder in Annas Arme. Am Anfang der Krankheit, wenn man immer leichter wird, ist man sehr nahe bei Anna, man vergöttert sie, weil sie eben im wahrsten Wortsinn alles „leichter“ macht. Selbst wenn man leidet ob der Mangelerscheinungen, lässt man sie nicht los und fällt in ihre Arme. Es bedarf der Erkenntnis, dass sie einem mehr nimmt als gibt, um sie loszulassen, dass man sich ja in eine Scheinwelt flüchtet. Denn eigentlich ist es ja gerade das, was man als Magersüchtiger nicht will: Dass jemand in sein Leben eingreift, Macht hat. Eigentlich will ich ja alles im Griff haben, will ich perfekt sein. Diese Gedanken müssen Platz greifen. Und das ist ein langer Weg, der unterstützt werden kann durch einen sehr individuellen therapeutischen Ansatz. Und Freunde, die einen begleiten.
Mir hat es geholfen, meine Geschichte aufzuschreiben und die Rückmeldungen von Betroffenen, Eltern oder einfach Menschen, die sich in dem Buch an manchen Stellen wiederfanden, gaben mir viel Kraft. Wenn ich helfen will, und das will ich, dann muss ich gesund werden. Anna rausschmeißen. Immerhin habe ich ihr schon mal einen Platz im Keller zugewiesen…

 

Sie schreiben immer wieder von Ihrer Freundin Steffi, die Ihnen in der ganzen Zeit zur Seite stand und natürlich noch steht. Was hat Steffi genau getan? Wie hat sie Ihnen helfen können? Was raten Sie Menschen, die in ihrem Umfeld einen/eine Betroffene haben? Zu sagen, „Dann iss halt was“ oder „Du bist krank, hol dir Hilfe“ ist sicherlich wenig hilfreich. Wie kann jemandem wie Ihnen geholfen werden?

C.F.: Sie war beharrlich, hart im Nehmen und unerbittlich im Begleiten. Sie war geradlinig und fand die richtige Mischung aus Verständnis und Härte. Viele machen im Umgang mit Magersüchtigen den Fehler, Verständnis zu zeigen, Freund zu sein, nicht verletzten zu wollen. Damit befeuern sie diese Krankheit aber eher. Denn wenn ich mich einrichten kann in meiner Welt, warum sollte ich sie dann verlassen? Gerade von Eltern höre ich immer wieder: ,…aber es ist doch unser Kind…’ Ja, wenn man es retten will, dann bedarf es aller Kraft und Stärke und die muss dann eben auch mal gegen das ,Kind’ eingesetzt werden. Meine Schwester hat das Vormundschaftsgericht angerufen, um mich entmündigen zu lassen. Das sind harte Schritte, aber sie rütteln zumindest an einem und bewirken etwas.

 

Was hat sie dazu bewogen, mit Ihrer doch sehr persönlichen Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen und sich somit quasi seelisch vor allen (die es wissen wollen) zu „entblößen“?

C.F.: Vor allem war es eine Selbsttherapie. Ich habe mich mir sozusagen selbst erklärt. Das war teilweise erschütternd, was ich da über mich und mein Leben las. Und so habe ich der Krankheit Bilder gegeben, den Betroffenen eine Stimme. Indem ich mich selbst übersetze und erkläre, finden sich auch Betroffene wieder, übrigens nicht nur Essgestörte. Ich klage nicht. Ich beschreibe. Ich hoffe, dass es helfen kann, Verständnis zu schaffen, Einblicke zu gewähren. Jeder muss selbst entscheiden, ob und was er daraus zieht. Das Versagen wird schwerer, wenn es Instanzen gibt, die einen überprüfen und das in aller Öffentlichkeit. Sie ist eine Möglichkeit zur Selbstüberprüfung. Auf manche Plattformen begebe ich mich sehenden Auges. Das ist dann so, als würde man sich auf den Marktplatz stellen. Ich setze mich dadurch unter Druck. Gehört zu werden ist wichtig. Aber ich bin nicht blauäugig. Wenn das Buch überhaupt Beachtung findet, was ich mir wünsche, dann wird das natürlich auch bald wieder in der Welle anderer Themen untergehen.

 

Fürchten Sie nicht, dass Ihnen das schonungslose „Geständnis“ beruflich irgendwie schaden könnte? Für die breite Öffentlichkeit waren sie immer der taffe Medienmann, dem keine Aufgabe zu groß war/ist. Das Buch vermittelt eine ganz andere Seite von Ihnen ….

C.F.: Ich rate meinen Kunden immer, authentisch zu sein. Das bin ich hier. Mir war immer klar: So oder ich lasse es bleiben. Halbgares gibt es in diesem Genre schon genug. Ich wollte offen sein, transparent, diese Krankheit mit voller Wucht beschreiben, und zeigen, dass es kein Kleinmädchenspleen ist, sondern auch einen Mann mittleren Alters treffen kann. Es ist meine Geschichte und ich denke, jeder Leser hat das Recht, die Wahrheit zu erfahren.

 

Wie hat Ihre Umwelt auf das Buch reagiert? Sie schreiben viel über das Verhältnis zu ihrer Mutter – und zwar nicht nur Gutes. Wie hat sie es aufgenommen, einen Teil dazu beigetragen zu haben, dass sie quasi am Verhungern waren?

C.F.: Mein direktes Umfeld hat natürlich mit Staunen und teilweiser Fassungslosigkeit reagiert. Von all dem wussten sie nichts. Aber es unterscheidet sich in nichts von den Reaktionen die ich von den Menschen bekommen habe, die mich nicht kennen. Ausnahmslos alle schätzen und zollen mir Anerkennung ob der Offenheit und der schonungslosen Darstellung meiner selbst und der Zeit in der Krankheit. Ich habe mehrmals geschrieben, dass ich niemanden außer mir selbst für den Weg in die Magersucht verantwortlich mache. Auch und gerade meine Mutter, bzw. meine Eltern nicht. Es ist ein Puzzleteil. Ein wichtiges. Ich habe das Verhältnis zu meiner Mutter beschrieben. Und ich denke, wer das Buch aufmerksam liest, sieht, wie sehr wir uns einander lieben und deswegen abarbeiten. Denn sie ist ich und ich bin sie. Das, was mich an ihr in den Wahnsinn treibt ist exakt das, was auch ich an mir nicht abstellen kann. Ich schaue in einen Spiegel. Meine Mutter hat das Buch gelesen und wir haben seitdem einen grundlegend anderen Umgang miteinander. Er ist wunderbar leicht und dennoch von Respekt geprägt.

 

Haben Sie seit Erscheinen des Buches etwas von Gabi, Ihrer ersten (und bisher einzigen) Freundin gehört, mit der sie 17 Jahre lang liiert waren?

C.F.: Wir haben uns schon 2009  – nach sieben Jahren absoluter Funkstille – wieder getroffen und haben uns neu angenähert. Ein Umgang voller Respekt, Sympathie, Verständnis und Offenheit. Es ist eine wunderbare Freundschaft erwachsen.

 

Für viele Außenstehende ist Magersucht ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Mutter hat oft gesagt „Ja dann iss halt was!“ und genau das werden sich Millionen andere Menschen auch denken. Aber die Sucht, eben nichts oder nur noch das Allernötigste zu essen, ist eine Sucht wie jede andere – vielleicht sogar eine noch schlimmere. Die wenigsten Magersüchtigen werden „ihre Anna“ jemals ganz wieder los. Glauben Sie, dass es wieder Momente geben wird, wo sie einfach und völlig unbeschwert Essen und Trinken genießen können?

C.F.: Das vermag ich nicht zu sagen. Ich hoffe, dass ich spontaner werden kann, entkrampfter, flexibler, was das Essen, was Genuss allgemein anbelangt. Das Wort unbeschwert finde ich in diesem Zusammenhang sehr schön. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich aus der Magersucht komme, ein völlig unverkrampftes Verhältnis zu dem Thema Essen und zur Nahrungsaufnahme hatte ich nie und ich rechne nicht damit, es je haben zu können.

 

Sie schreiben selber, es gibt kein Ende. Ich drücke Ihnen von Herzen die Daumen, dass die Beziehung zu Anna irgendwann ganz locker ist und sie nur noch wenig bestimmt. Und vielleicht können Sie sie eines Tages sogar ganz loslassen …

C.F.: Ich danke Ihnen sehr. Für Ihr Interesse, Ihre einfühlsamen Fragen und Ihre guten Wünsche. Und glauben Sie mir, es dauert nicht mehr lange und diese Anna sitzt auf der Straße…

Das Interview führte Kerstin Klimenta

 

Zur Person:

Christian Frommert war 15 Jahre lang bei der Frankfurter Rundschau tätig, darunter acht Jahre als Wirtschafts-Redakteur, Chef vom Dienst und Geschäftsführer der Verlags-Tochtergesellschaft main.sign GmbH.

Von 2005 bis Ende 2008 zeichnete er als Head of Corporate Sponsoring and Sponsoring Communications der Deutschen Telekom AG/T-Mobile International für das Rad-Engagement des Konzerns (T-Mobile Team) verantwortlich und stand durch seine Tätigkeit häufig im Fokus der Öffentlichkeit. 2006 verkündete er einen Tag vor dem Start der Tour de France die Suspendierung des Rad-Superstars und Toursiegers von 1997, Jan Ullrich, wegen dessen mittlerweile rechtskräftig bestätigten Verstrickung in den Fuentes-Doping-Skandal.

Seit mehr als fünf Jahren leidet Frommert an Magersucht. In seinem Buch „Dann iss halt was!“ gibt er einen schonungslosen und unglaublich ehrlichen Einblick in sein Leben und seine Krankheit.

Er lebt und arbeitet heute als selbstständiger Kommunikationsberater in Bensheim, Hessen.

 

Das Buch

Frommert„Wenn sie zurückkommt, bin ich dünn.“ Diesen Entschluss fasst Christian Frommert, als seine damalige Angebetete sich für ein Jahr nach Australien verabschiedet. Es ist einer der Schlüsselmomente in seinem Leben. Ehemals übergewichtig, gleitet er immer tiefer hinab in den Zwang, dünn zu sein. Während des Doping-Skandals um Jan Ullrich 2006 wird er vom Stress so absorbiert, dass für Essen keine Zeit bleibt.

In den folgenden Jahren nimmt er immer mehr ab, bis er schließlich an seinem absoluten Tiefpunkt nur noch 39 Kilogramm wiegt und beinahe an Nierenversagen stirbt. Er wird wie durch ein Wunder gerettet und beschließt: Ich will leben! Dieser neue Mut und Freunde, die ihm zur Seite stehen, helfen ihm, Kraft zu schöpfen. Er schafft es sogar, diese an seine Mitmenschen und Betroffene weiterzugeben.

Schonungslos und absolut ehrlich erzählt Christian Frommert seine tragische Geschichte, die ihm fast das Leben gekostet hat. Und ein Ende ist noch nicht in Sicht … Frommert spart dabei nicht mit Selbstkritik und bringt so seine schockierte Leserschaft trotz aller Dramatik immer wieder zum Schmunzeln …

Ein Buch, das informiert, schockiert, fesselt, aufwühlt, unterhält, zutiefst berührt und wachrüttelt – selbst Menschen, die nicht an einer Essstörung erkrankt sind, werden sich an der einen oder anderen Stelle in diesem Buch wiederfinden.

Ich wünsche dem Buch eine große Leserschaft und Christian Frommert, dass er eines schönen Tages seine Anna für immer loslassen kann.

Kerstin Klimenta